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05.11.09 Bakterien entwickeln epigenetische Überlebensstrategien bei rasch ändernden Umweltbedingungen

Bakterien erwarten das Unerwartete

Wissenschaftler beobachten die Entstehung einer neuen Anpassungsstrategie an sich rasch ändernde Umweltbedingungen

Abb. 1: Eine Generation bringt genetisch identische Nachkommen hervor, die sich jedoch im Grad ihrer Anpassung an die jeweilige Umwelt unterscheiden. Dadurch erhöht sich für einige dieser Nachkommen die Chance, auch drastische Änderungen der Umweltbedingungen zu überleben. Tritt dieses Ereignis ein, ist der Fortbestand der Art als Ganzes gewährleistet.
Quelle: Hubertus J. E. Beaumont

Lebewesen sichern das Überleben ihrer Art, indem sie sich genetisch an ihre Umwelt anpassen. Ändern sich die Umweltbedingungen zu schnell, kann dies zum Aussterben einer Art führen. Eine Strategie, solche Herausforderungen zu meistern, ist die Erzeugung verschiedener Nachkommen, die jeweils unter unterschiedlichen Umweltbedingungen überleben können. Ein Teil des Nachwuchses hat dann zwar eine geringere Überlebenschance, das Überleben der Art als Ganzes ist aber gewährleistet. Wissenschaftler haben nun erstmals in einem Experiment mit der Bakterienart Pseudomonas fluorescens die Evolution einer solchen Strategie unter Laborbedingungen beobachtet: Ein Bakterienstamm, der rasch wechselnden Umweltbedingungen ausgesetzt worden war, entwickelte die Fähigkeit, auch ohne zusätzliche Mutationen unterschiedliche Nachkommen hervorzubringen. Diese neue Überlebensstrategie sicherte den Erhalt des Bakterienstammes.

In der Biologie sind solche Strategien schon länger bekannt und werden als "bet-hedging" bezeichnet. Im Evolutionsgeschehen stellt bet-hedging nicht die übliche Anpassung an die Umgebung dar, bei der sich die Träger vorteilhafter Mutationen gegen andere Individuen durchsetzen, die diese Mutation nicht aufweisen. Vielmehr handelt es sich um eine Strategie, bei der von einer Generation Nachkommen produziert werden, die zwar genetisch identisch sind, sich aber in ihrer Anpassung an die jeweilige Umwelt unterscheiden: Einige Nachkommen sind an die bestehenden Umweltbedingungen optimal angepasst, während sich andere Nachkommen unter völlig anderen Bedingungen am wohlsten fühlen. Bei einer schnellen und dramatischen Änderung der Umgebung können sie so plötzlich im Vorteil sein und dadurch das Überleben der Art sichern. Der evolutionäre Vorteil dieser bet-hedging-Strategie ist dabei umso größer, je drastischer und unvorhersehbarer sich die Umweltbedingungen ändern. Bakterielle Krankheitserreger besitzen beispielsweise solche Mechanismen zur Risikostreuung: Indem genetisch identische Zellen unterschiedliche Oberflächen ausbilden, entkommen einige der Erreger dem menschlichen Immunsystem. Weitere Beispiele für bet-hedging sind aus dem Tier- und Pflanzenreich bekannt.

Wenn Nachkommen ein identisches Genom haben, sich aber im Aussehen (Phänotyp) unterscheiden, so sind epigenetische Faktoren, wie z.B. das Stummschalten von Genen durch DNA-Methylierung beteiligt. Epigenetische Faktoren können sozusagen als ein Startwert mitbestimmen, wie oft Gene in die entsprechenden Proteine übersetzt werden.

Aus vorteilhaften Mutationen werden Nachteile

Die Wissenschaftler vom MPI für chemische Ökologie haben versucht, Pseudomonas-Stämme solange zu selektieren, bis sie einen mutierten Stamm erhielten, der sich mit ständig wechselnden Umweltbedingungen am besten arrangieren kann. Dieser Stamm hat das bet-hedging vorzüglich beherrscht: es  waren also Bakterien, die bei der Teilung Tochterzellen erzeugen, die sich äusserlich klar von der Mutterzelle unterscheiden. Man muss also klar zwischen der Selektionsphase der vorliegenden Arbeit, in der Mutationen zu "evolutionär besseren Strategien" führen und dem eigentlichen bet-hedging unterscheiden, in der Epigenetik darüber entscheidet, wie oft die eigentlichen Gene abgelesen werden.

Für die eigentliche Selektion setzten die Wissenschaftler Bakterien abwechselnd ungeschütteltem oder geschütteltem Nährmedium aus, um so Varianten zu erzeugen, die aufgrund vorteilhafter Mutationen im Erbgut entweder "geschüttelt" oder "ungeschüttelt" einen Vorteil hatten. In beiden Umwelten musste sich also jede durch Mutation neu entstandene Variante gegen alle unmutierten Vertreter des Ausgangsstammes durchsetzen. Unter der Annahme, dass sich eine Variante, die sich äußerlich von ihrem Vorgänger unterschied (zum Beispiel glatte vs. raue Oberfläche), auch gegen diesen durchgesetzt hatte, wurde der jeweils häufigste Vertreter dieser neuen Varianten ausgewählt und der jeweils anderen "Umwelt" ausgesetzt. Eine für das geschüttelte Nährmedium vorteilhafte Mutation wurde dadurch zum Nachteil im ungeschüttelten Medium und umgekehrt. Deshalb mussten neue Mutationen und damit neue Varianten entstehen, die diesen Nachteil wieder kompensierten. Kaum hatten sich die Bakterien also an eine Umgebung angepasst, wurden sie gezwungen, sich erneut umzustellen.

Bet-hedging: ein Genotyp, mehrere Varianten

Durch den ständigen und regelmäßigen Wechsel zwischen geschütteltem und ungeschütteltem Medium entstanden nach kurzer Zeit Typen mit gleicher genetischer Ausstattung (Genotypen), die immer zwei verschiedene Varianten (glatte und raue Oberflächen) erzeugten. Bakterien, die das bet-hedging nicht beherrschten, konnten sich nicht durchsetzen.

Eine Genanalyse ergab, dass beide Phänotyp-Varianten auf genetischer Ebene absolut identisch waren. Des Weiteren unterschied sich der bet-hedging-Genotyp durch neun Mutationen vom Pseudomonas-Ursprungsstamm, mit dem das Experiment gestartet worden war. Dabei war ausschließlich die zuletzt aufgetretene Mutation für das bet-hedging verantwortlich. "Unsere Experimente belegen, dass Risikostreuung eine sehr erfolgreiche Anpassung an sich rasch ändernde Umweltbedingungen ist. Denn wenn ein und derselbe Genotyp gleichzeitig mehrere Varianten hervorbringt, kann er schneller auf starke Änderungen der Lebensbedingungen reagieren", sagt Christian Kost. Und Paul Rainey, Leiter der Studie an der Massey University Auckland, ergänzt: "Bet-hedging war möglicherweise eine der ersten Strategien von Organismen, um sich an immer wieder wandelnde Umweltbedingungen auf der Erde anzupassen. Dies lässt sich aus der Leichtigkeit schließen, mit der die Strategie in unseren Experimenten entstand."

Quelle:

Experimental evolution of bet-hedging
H. J. E. Beaumont, et. al., Nat. Chem. 2009, DOI: 10.1038/nature08504

Bitte zitieren Sie die Seite wie folgt:

Bakterien entwickeln epigenetische Überlebensstrategien bei rasch ändernden Umweltbedingungen
(URL: https://www.organische-chemie.ch/chemie/2009/nov/bakterien.shtm)

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